Manifest zur Gründung einer Initiative für integrative Pädagogik und Politik
Für die Gründungsinitiative IiPP zeichnen
Prof. Dr. HANS EBERWEIN, Dachsberg 17a, D -14193 Berlin ()
Prof. Dr. GEORG FEUSER, Univ. Zürich, Inst. f. Sonderpädagogik, Hirschengraben 48, CH – 8001 Zürich (/)
Die für die Bundesrepublik Deutschland negativen Ergebnisse der OECD-Studien wie z.B. die PISA-Untersuchungen, haben den Stellenwert der Bildungspolitik in Deutschland wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. In ihnen manifestieren sich zum einen die Auswirkungen der Globalisierung und der zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche, zum anderen die Verstärkung dieser gesellschaftlichen Prozesse, die bildungspolitisch als Auswege aus der Bildungsmisere favorisiert werden.
Es ist in besonderer Weise dem Engagement betroffener Eltern zu verdanken, dass es seit Mitte der 70er Jahre gelungen ist, die Idee eines gemeinsamen Lernens von Kindern mit und ohne „Behinderung” in Kindergärten und Schulen praktisch zu verwirklichen. Seit einigen Jahren stagniert die Umsetzung der Integration. Die Bundesrepublik Deutschland liegt im Vergleich zu anderen europäischen Staaten mit ihrer Integrationsquote auf einem der letzten Plätze. Dies nicht nur aus Gründen der Verknappung finanzieller Ressourcen, sondern auch durch die Verdrängung der Inklusionsthematik aus der bildungspolitischen Diskussion. Unverständlich ist, dass das segregierende viergliedrige Schulsystem aufrecht erhalten wird, obwohl bei den PISA- Untersuchungen integrative Schulsysteme besonders gut abgeschnitten haben – darunter auch mehrere deutsche reformpädagogisch orientierte Gesamtschulen – und vergleichende Untersuchungen auch eine Überlegenheit integrierter allgemeinbildender Schulen gegenüber Sonderschulen hinsichtlich der kognitiven und sozialen Entwicklung der Schüler feststellten.
Eingliederung kann nicht durch Ausgliederung erreicht werden! Durch die Zuordnung zu bestimmten Sonderschultypen und die Zusammenfassung von „gleichartig Behinderten” wird das Lernen am positiven Modell des Mitschülerverhaltens verhindert und es stehen nur eingeschränkte Lernanreize und Verhaltensmuster zur Verfügung. Die Sonderpädagogik rückt die „Behinderung” in den Mittelpunkt; sie ist defizit- und defektorientiert. Die Integrationspädagogik hingegen setzt an den Stärken, Fähigkeiten und Interessen aller Kinder an. Das Festhalten am gegliederten Schulsystem, das auf einer veralteten Begabungstheorie basiert und historisch aus einer ständisch geprägten Gesellschaftsordnung stammt, ist weder bildungs- noch gesellschaftspolitisch vertretbar. Durch Selektion und Ausgrenzung wird eine Vielzahl von Versagern und Verlierern produziert. Die negativen Folgen sind pädagogisch, sozialpolitisch und volkswirtschaftlich unabsehbar. Die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ist der europäischen und internationalen Antidiskriminierungs- und Integrationspolitik gegenläufig. Die Repolitisierung der Integrationsbewegung ist deshalb im deutschsprachigen Raum unumgänglich!
Dieses Manifest dient als Gründungsdokument einer Organisation, die die Integration beeinträchtigter, behinderter und benachteiligter Menschen jeglicher Art auf politischer und gesellschaftlicher Ebene und bezogen auf alle Lebensbereiche öffentlich diskutiert und aktiv einfordert.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich notwendige Aufgaben im Hinblick auf die Bekämpfung von segregativen Bildungswirkungen über die reine Schulpädagogik hinaus. Unbedingt notwendig sind deshalb auch politische Initiativen im Bereich der Lebens- und Bildungsbedingungen vor der Schule wie auch solche, die sich auf die fortdauernde kulturelle Einbindung und uneingeschränkte Teilhabe aller Menschen über die ganze Lebensspanne beziehen.
Ausgehend von der Anerkennung der natürlichen Verschiedenheit eines jeden Menschen wird Integration verstanden als Methode, Weg und Ziel, um die gleich berechtigte Teilhabe aller Menschen an den naturgegebenen und von Menschen geschaffenen Gütern und Institutionen zu garantieren. Jeder Mensch soll das Recht und die Möglichkeit haben, seine Teilhabe zu definieren und die dafür notwendige Unterstützung zu erhalten. Rechtliche Vorgaben und Programme finden sich auf europäischer und bundesweiter Ebene. Es sei hier nur an das Sozialgesetzbuch (SGB) IX und an das Bundesgleichstellungsgesetz (BGG) erinnert.
Die unterzeichneten Personen verfolgen deshalb die Zielsetzung, die vorliegenden human- und erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisse und schulpraktischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte umzusetzen und für ein modernes, leistungsfähiges und selektionsfreies Bildungssystem einzutreten. Es muss deutlich gemacht werden, dass Integration bzw. eine inklusive Gesellschaft eine demokratische Verpflichtung ist und eine logische Konsequenz der Umsetzung von Menschen-, Grund- und Sozialrechten. Nach unserer Überzeugung stehen gesellschaftlich und individuell benachteiligte Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu wenig im Blickfeld der politisch Verantwortlichen, obwohl ihre Zahl stark anwächst. Erziehungs-, Bildungs- und soziale Institutionen werden heute von gesellschaftlichen Problemen überfrachtet, die durch familien-, sozial- und arbeitsmarktpolitisches Handeln gelöst werden müssen.
Wenn die PISA-Ergebnisse z.B. lediglich dazu führen, Schule in der Weise zu „reformieren”, dass einheitliche Bildungsstandards für alle Schüler festgelegt werden, wird die Fiktion vom Durchschnittsschüler weiter verstetigt, bleiben die unterschiedlichen Biografien, Erfahrungen und Lernvoraussetzungen jedes einzelnen Schülers ignoriert und Erkenntnisse der Lerntheorie, der Entwicklungspsychologie und der Neuropsychologie weiterhin missachtet.
Eine reformorientierte Pädagogik setzt auf die Vielfalt kindlicher Lernentwicklungen, Interessen und Bedürfnisse. Sie lehnt die Sonderpädagogisierung von Lernproblemen ab und plädiert anstelle äußerer Differenzierung in spezielle Schularten für individuelles Lernen und innere Differenzierung im Rahmen offener, flexibler, vorhaben- und projekt- orientierter Lernformen.
Die aus dem Manifest resultierende Initiative für Integrationspädagogik und Integrationspolitik tritt deshalb mit Nachdruck für eine Abschaffung von Sondereinrichtungen in allen Lebensbereichen ein. Im Bereich der Bildung bedeutet dies vor allem die Realisierung einer nicht ausgrenzenden Allgemeinen Pädagogik. Eine grundlegende Orientierung sind z.B. die in den skandinavischen Ländern geltenden pädagogischen Grundsätze „Kein Kind darf zurückbleiben” und „Kein Kind darf beschämt werden”. Gemeinsamkeit ist Voraussetzung, um Verschiedenheit akzeptieren zu können. Wir schließen uns der Forderung der UNESCO an, die auf ihrer Weltkonferenz „Zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse” 1994 in Salamanca/Spanien alle Länder der Welt aufgerufen hat, „unabhängig von individuellen Schwierigkeiten das Prinzip integrativer Pädagogik anzuerkennen”. Wir berufen uns dabei auch auf die 1994 vom Deutschen Bundestag beschlossene Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG durch den Satz 2: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden”, sowie auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 18.08.2006. Wir beziehen uns außerdem auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom Jahre 2000, in der in den Art. 21 und 26 die „Nichtdiskriminierung” und die „Integration von Menschen mit Behinderung” gefordert werden.
Auf dem Hintergrund der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, des Grund- und Menschenrechts für Behinderte im Grundgesetz sowie des Anti- diskriminierungsgesetzes betrachten wir jegliche Form von Ausgrenzung als Stigmatisierung und Diskriminierung sowie als soziale Benachteiligung. Wir setzen uns deshalb für integrative Kindertagesstätten sowie für ein Schulsystem in Form der Gemeinschaftsschule bis zur 13. Klasse ein und fordern die Verlagerung der personellen und finanziellen Ressourcen aus dem Bereich der Sonderschulen in allgemeine Bildungseinrichtungen. Die Haushaltsvorbehalte der Länder gegenüber einer inklusiven Erziehung und Bildung müssen aufgehoben werden. Sie verletzen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Gemeinschaftsschulen und vorschulische Einrichtungen müssen mit Schulsozialarbeitern und Schulpsychologen ausgestattet werden. Außerdem ist eine Kooperation von Schule und Jugendhilfe notwendig. Darüber hinaus fordern wir eine Qualifizierung aller ErzieherInnen und LehrerInnen im Hinblick auf integrationspädagogische Studieninhalte; in gleicher Weise entsprechende Inhalte in der Aus-, Fort- und Weiterbildung des darüber hinaus mit behinderten Menschen tätigen Fachpersonals. Die bisherigen sonderpädagogischen Fachrichtungen sollen als Wahlpflichtfächer in die allgemeine Lehrerausbildung integriert werden. Lehrstühle für Integrationspädagogik, die in den letzten Jahren frei geworden sind und z.T. gestrichen wurden, müssen neu geschaffen und besetzt werden.
Unser gesellschaftspolitisches Engagement gilt dem Ziel, behindernde, aussondernde und benachteiligende Strukturen nicht nur institutionell, sondern auch gesamtgesellschaftlich zu überwinden. Wir wollen mehr soziale Gerechtigkeit und bessere Zukunftsperspektiven für alle jungen Menschen erreichen. Bildungspolitik bedarf nach unserer Auffassung der Zusammenarbeit mit Familien- und Jugendpolitik, aber auch mit Sozial-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Wesentliche Aufgabenfelder sind daher
- Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit,
- Kooperation von Pädagogik und Politik sowie internationale Kontakte und
- die Einrichtung einer inklusiven Lehr-, Lern- und Weiterbildungskultur.
Die Initiative für integrative Pädagogik und Politik strebt eine Vernetzung und enge Zusammenarbeit mit allen bereits bestehenden Behindertenorganisationen und -verbänden, mit Elternvereinigungen, Arbeitskreisen und anderen Einrichtungen an, die sich mit Integration/Inklusion befassen. Wir verstehen uns als Ansprech- und Verhandlungspartner für alle politischen Parteien und Organisationen.
Erfurt (Berlin/Zürich), den 24. Februar 2007, gez.: Hans Eberwein, gez.: Georg Feuser
Prof. Dr. Hans Eberwein, Dachsberg 17a, D – 14193 Berlin,
Prof. Dr. Georg Feuser, Univ. Zürich, Institut für Sonderpädagogik, Hirschengraben 48, CH – 8001 Zürich