Stellungnahme des Vereins
Politik gegen Aussonderung – Koalition für Integration und Integration
zum Positionspapier des VDS – Verband Sonderpädagogik „Inklusives Bildungssystem“
1. Der Verein Politik gegen Aussonderung – Koalition für Integration und Integration begrüßt die Positionierung des VDS für die Inklusive Bildung. Auch wir vertreten die Position: „Bis zum Schuleintritt muss für alle Kinder ein inklusives verlässliches Bildungs‐, Erziehungs‐ und Betreuungsangebot in Kindertagesstätten kostenfrei zur Verfügung stehen. Für alle schulpflichtigen Kinder muss ein solches Angebot (inklusiver Bildung; PogA), am jeweiligen Standort ihrer Schule (d.h. der allgemeinen Schule; PogA) vorhanden sein.“ In dieser Hinsicht sehen wir uns mit dem VDS in einer Linie. In dem weiteren Text des Positionspapiers finden sich dagegen Formulierungen, die dieser Position entgegenstehen bzw. die durch eben diese Position hinfällig werden.
2. Zentrales Problem des Positionspapiers ist dabei ein grundlegendes Fehlverständnis der Inklusionsforderung, nämlich die Benutzung von Inklusiver Bildung als ein pädagogisches Mittel zur Herstellung von Teilhabe, statt zu erkennen, dass Inklusive Bildung eine Voraussetzung von Teilhabe ist.
Besonders deutlich wird dies an folgender Stelle: „Dabei muss darauf geachtet werden, dass zu einer gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen in marginalen Positionen immer auch der angemessene gesellschaftliche Schutz und die notwendige Fürsorge gehören“. Hier scheint ‚Teilhabe’ Ansprüche an Menschen zu stellen, denen gegenüber im Falle von Menschen in ‚marginalen Positionen’ ein fachlich angestoßener gesellschaftlicher ‚Schutz’ bzw. ‚Fürsorge’ realisiert werden muss: eine völlige Verkennung der Inklusionsforderung! Unter der Bedingung realisierter Inklusion gibt es keine ‚marginalisierten’ Menschen, da mit der Inklusion eben die Teilhabe verwirklicht ist. So ist unter inklusiven Bedingungen auch kein ‚Schutz’ und keine ‚Fürsorge’ nötig, da es keine von außen gesetzten externen Ansprüche an die Beteiligten gibt, sondern sich die Ziele des gemeinsamen Handelns eben aus der gemeinsamen Tätigkeit ergeben.
3. Der VDS setzt dagegen offensichtlich fortdauernd auf gesellschaftliche Leistungsvorgaben – ‚Qualitätsstandards’ –, denen sich die Menschen heute offensichtlich zu unterwerfen haben und denen gegenüber die Sonderpädagogik Ihre Fachlichkeit darin beweist, den „Bedarf“ von Menschen „passgenau“ und „kompetent“ zu ermitteln und zu gewährleisten, den diese benötigen, um so ein „individuelles Maximum an Lernen und Entwicklung zu ermöglichen“. Dies als Ausdruck „gelungener inklusiver Bildung und Erziehung“ ist eine wirkliche Perversion des Inklusionsgedankens. Es ist dies die historisch fortdauernde – Legitimierung der Existenz von Hilfsschulen als Entlastung der Volksschulen bei deren Leistungserbringung und Brauchbarmachung der ‚schwachsinnigen’ Kinder – Unterwerfung unter das Paradigma der Perfektibilisierung der Menschen nicht im Hinblick auf Mündigkeit (Kant, Humboldt) sondern auf gesellschaftlich verwertbare Leistungsfähigkeit!
Inklusion zielt im Unterschied hierzu auf einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel weg von der Leistungsgesellschaft, in der Menschen alleine in Bezug auf Ihre gesellschaftliche Verwertbarkeit hin Wert gewinnen, hin zu einem Gemeinwesen in der jeder Mensch mit seinen Voraussetzungen Wert ist, da ein solches Gemeinwesen seinen Wert aus der befruchtenden Vielfalt der Beiträge seiner Mitglieder gewinnt. Qualität unter dem Paradigma der Inklusion ist eben nicht eine individuelle Qualität – auch nicht deren externe fachliche Realisierung – sondern eine relationale(!) Qualität, nämlich die Herstellung von Kommunikation und gemeinsamer Tätigkeit.
Optimales individuelles Lernen und Entwicklung ergeben sich in solcher Art gestalteter Gemeinschaften, seien diese informell oder formell/institutionell realisiert, von selbst, da Lernen und Entwicklung Grundbedingungen des Lebens beschreiben. Dabei schließt dieses Lernen immer auch „Erfahrungen des Scheiterns“ mit ein; Fehler sind Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen! Alleine dieses ‚Scheitern’ ist hier, wie gesagt, selbstverständlicher Teil des Lernens aller Beteiligten, während es bei der Lehr‐ und Leistungstechnologie im gesellschaftlichen Auftrag zu einer Disqualifikationserfahrung führt, die dahin geht, Fehler zu vermeiden und damit Lernen verhindert.
Lernen und Entwicklung können, so gesehen, letztlich nur verhindert werden. Unter individuell passenden Bedingungen dagegen ist Entwicklung in jedem Fall auf individuell höchste Niveaus möglich, was pädagogisch in jedem Fall gewährleistet werden muss. Wesentliche Hindernisse sind dabei die institutionalisierte Steuerung dieses individuellen Begegnungs‐ und Entwicklungsprozesses und die Beschränkung des Kommunikations‐ und Erfahrungsraumes unter Maßgabe dieser Steuerung. Es sind dies die Probleme die, wie PISA zeigt, für das deutsche Schulwesen beherrschend sind.
4. Selbstverständlich ist das Vorhaben einen inklusiven Bildungsraum zu schaffen, nicht profan, ist nicht einfach eine Entscheidung der Haltung oder Schulorganisation, sondern bedarf eines höchsten Maßes an fachlicher Kompetenz, wie die Erfahrungen in Integrationsprojekten gezeigt haben. So gilt es potentiell oder real segregativ wirksame Störungen in diesen Prozessen – wie z.B. wirksame gesellschaftliche Stigmata, didaktische Unzulänglichkeiten oder Kommunikative Barrieren – zu erkennen und zu überwinden. Eine sicher noch lange fortbestehende Aufgabe Integrativer Pädagogik, da jede Gesellschaft, auch eine die sich unter dem Inklusionsparadigma völlig vom Leistungsgedanken verabschiedet, immer auch Exklusionsprozesse erzeugt (Luhmann), die jeweils erkannt und überwunden werden müssen.
Hierfür wird es sicher auch zu allen Zeiten notwendig sein, Ressourcen im Sinn von Kompetenz‐ und Ressourcenzentren vorzuhalten, um unter allen Bedingungen die nötige personelle Ausstattung (evtl. persönliche Assistenz) und fachliche Qualität – im Sinne der Inklusion! (s.o.) – der Prozesse zu sichern. Diese sind dann aber sicher fachlich nicht mehr den jeweiligen Sonderschulformen zuzuordnen sondern werden aus interdisziplinären Teams bestehen, die aufgabenbezogen zusammengestellt sind und problembezogen, nicht individuumsbezogen, arbeiten.
Letztlich zeigt das VDS Positionspapier den Verband weiterhin in einer Distanz zum Projekt der Inklusion – so will er dieses Projekt, so das Fazit des Papiers, denn auch nicht betreiben, sondern nur „begleiten“. Die Annäherung an das Projekt Inklusiver Pädagogik in der eingangs beschriebenen grundsätzlichen Forderung des Verbandes ist deshalb umso mehr zu begrüßen. Eine fachliche Qualifizierung im Sinne Inklusiver Bildung steht aber offensichtlich noch aus.